Das Organon der rationalen Heilkunst

Nach 20 Jahren intensiver Forschungsarbeit erschien im Jahre 1810 Hahnemanns Lehrbuch und Grundlagenwerk „ORGANON der rationalen Heilkunde“ in seiner ersten Auflage. Dieses nach Paragrafen geordnete Regelwerk erfuhr im Rahmen der homöopathischen Entwicklung zahlreiche Änderungen. Als Herausforderung geschrieben blieb es seit seinem ersten erscheinen ein Wunderwerk für Heilkundige und für Andere der Stein des Anstoßes.

ORGANON als Titel war in der wissenschaftlichen Literatur dieser Zeit nicht neu. Bereits die Schüler des griechischen Philosophen Aristoteles (384 – 322 vor Christus) verwendeten ihn für die Sammlung seiner logisch-propädeutischen Schriften. Auch der englische Philosoph Baco von Verulam (1561 – 1626) verwandte den Begriff in seinem Werk Novum Organon (1620) für seine Abhandlungen über Logik und Erfahrungswissenschaft.

Hahnemann lehnte sich mit seinem ORGANON also an die logische Anwendung von erfahrungs-wissenschaftlichen Erkenntnissen an. Er nannte es ‚rationale Heilkunst’, weil die Ratio und nicht etwa ein Dogma Grundlage seiner Erkenntnisse und seines Handelns waren. Er veröffentlichte sein Werk mit den Worten:

„Die Resultate meiner Überzeugungen liegen in diesem Buche. Es wird sich zeigen, ob Ärzte, die es redlich mit ihrem Gewissen und der Menschheit meinen, nun noch ferner dem heillosen Gewebe der Vermutungen und Willkürlichkeiten anhängen oder der heilbringenden Wahrheit die Augen öffnen können.“

Mit dem ORGANON setzte sich Hahnemann kritisch mit den Praktiken der Medizin seiner Tage auseinander. Seine deutliche Wortwahl führte zu einem langen, zähen und heftigen Streit. Seine Position brachte er auch in zahlreichen Veröffentlichungen zum Ausdruck. So erschien in mehrmaliger Wiederholung im Reichsanzeiger des Jahres 1811 folgende Zeilen:

„Sollte man es wohl glauben, daß in diesen erleuchteten Zeiten ein Erfahrungswerk wie mein ORGANON der rationalen Heilkunde, welches bloß aus Erfahrung fließt, bloß auf Erfahrung hinweist und nie anders als durch Gegenerfahrungen und Gegenversuche bestätigt oder widerlegt werden könnte, von mehreren Rezenten bloß durch leere Worte und Aussprüche der bisherigen Schule abgefertigt wird?
So versuchte man auch damals des Kopernicus bewiesene Bewegung der Erde um ihre eigene Achse und um die Sonne mit ptolemäischen Worten und Harveys bewiesenen Blutumlauf mit galenischen Worten zu wiederlegen.“

Gewiss, Hahnemanns Schreibstil und Wortwahl entsprach dem frühen 19. Jahrhundert. Kurze praktische Sätze galten hier nicht als schicklich. Daher fällt es uns heute manchmal schwer seine Zeilen zu verstehen. Zusammenfassend möchte ich hier Hahnemanns Aussage noch einmal betonen. Homöopathie ist erfahrungswissenschaftliche Erkenntnis.

Das Werk wurde schon bald ins Französische, Holländische und Ungarische übersetzt. Es folgten weiter Übersetzungen, bis das Werk in insgesamt 10 Sprachen vorlag. Für die damalige Zeit war es damit zu einem der bedeutendsten und weitverbreitetsten medizinischen Werke geworden. Die zweite Auflage des ORGANON erschien 1819. Sie trug den Untertitel:

Aude sapere

(wage zu Wissen)

Hahnemann selbst übersetzte dies (frei) einmal als

„Habe das Herz Einsicht zu haben!“


Titel und Untertitel wurden in der 3. Auflage (1824), in der 4. Auflage (1829) und in der 5. Auflage (1833) beibehalten.

Bereits in den ersten Jahren seiner homöopathischen Arbeit spaltete Hahnemann die gesamte medizinische Wissenschaft in die zwei Lager. Das der Befürworter und der Gegner. Mit der weiteren Entwicklung der Homöopathie kam es auch unter den Befürwortern zu Abspaltungen. Mit der 5. Auflage des Organons entbrannte ein heftiger Richtungsstreit. Im Wesentlichen ging es dabei um die Dosierung, die Anzahl der Tropfen, die Häufigkeit der Wiederholungen und den Wirkstoffgehalt, den Grad der Verdünnung. Als zusätzliche Kontroverse kam mit der 5. Auflage die Frage nach Mischungen anstelle der Einzelgaben reiner Substanzen auf. Im Kern ist das der Streit, der immer noch Befürworter und Gegner aneinandergeraten lässt und selbst die Anwender in mehrere Lager spaltet.

Die 6. und letzte Auflage des ORGANON wurde von Hahnemann im Jahr 1840 begonnen. Sie war im Februar 1842 druckfertig. Hierin gab es gegenüber der 5. Auflage weitere herausragende Änderungen und revolutionäre Neuerungen. Diese wurden von vielen nicht gern gesehen. Eine große Gruppe der Anwender hatte erwartet, dass Hahnemann Teile seiner Aussagen der 5. Auflage zurücknahm. Stattdessen gab es bereits in den Ankündigungen weitere Änderungen, die für lebhafte Diskussionen sorgten. Zu dem Richtungsstreit über den Inhalt kamen dann auch noch verlagsrechtliche Auseinandersetzungen hinzu. Bis zu seinem Tode am 02. Juni 1843 gelang es Hahnemann nicht die 6. Auflage seines Werkes zu veröffentlichen.

Der Streit ging auch nach Hahnemanns ableben weiter. Die Verhandlungen führte seine zweite Ehefrau Melanie Hahnemann (Marie Mélanie d’Hervilly Gohier Hahnemann). Mal ging es dabei um die Frage, ob die 6. Auflage unverändert erscheinen durfte, mal ging es um die Geldfrage. Die Homöopathischen Verbände wollten Frau Hahnemann einerseits das Praktizieren untersagen. Sie war unter ihrem Mann zur weltweit ersten Homöopathin ausgebildet worden. Bereits 6 Jahre nach Hahnemanns Tod ließ man ihr gerichtlich jede weitere therapeutische Tätigkeit verbieten. Außerdem wollte man für den Nachlass Hahnemanns möglichst gar nichts bezahlen. So gab es immer wieder Aufforderungen zur Überlassung des Originals mit samt seiner Rechte von verschiedenster Seite und aus verschiedenen Ländern an Frau Hahnemann. Im Jahre 1870 führte der Deutsch-Französischen-Krieg zur Flucht vieler Deutscher aus Frankreich. Auch Melanie Hahnemann hielt es auf Grund ihres Deutschen Namens für besser, Paris für einige Zeit zu verlassen. Sie verlegte ihren Aufenthalt in das westfälische Münster. Im Rahmen dieser Vorgänge gelangten Hahnemanns literarische Hinterlassenschaften auf das Gut der Familie Bönnighausen. Wohl verpackt in soliden Kisten lagerte es dort für die folgenden Jahrzehnte. In all den Jahren konnte, bis zu ihrem Ableben im Mai 1878 nie eine tragfähige Einigung über die Veröffentlichung der 6. Auflage des ORGANON erzielt werden. Die Rechtsnachfolger von Frau Hahnemann verloren an der Veröffentlichung bald das Interesse und so schlummerte das Werk weitere 43 Jahre wohl verpackt in einer Kiste. 

Erst im Jahre 1921 wurde das Werk wiedergefunden. Die Veröffentlichung wurde jedoch von den weltpolitischen Ereignissen überschattet. Erst nach den Kriegsjahren verbreitete sich die 6. Auflage des ORGANON’s langsam unter den Anwendern und homöopathischen Schulen.

Vielleicht magst du jetzt mal selber einen Blick ins Organon wagen. Es gibt eine kostenlose Online-Version hier:

 

Ausbildung

Klassische Homöopathie mit Polycresten